Range of Motion für Krafttraining & Muskelaufbau

Möglichst alle Übungen mit Full Range of Motion ausführen. Dieser Rat ist auch mein Standard, wenn keine Gründe dagegen sprechen. Die gibt es allerdings. 

Damit entferne ich mich einige Schritte von der oft wiederholten, quasi-religiösen Formel, man müsse gefälligst immer über die volle Bewegungslänge arbeiten, sonst … ja, sonst was?

Range of Motion und Trainingserfolg

Der zuvor beschriebenen Eifer zugunsten einer Full Range of Motion hält in der Realität kaum stand. Teilkontraktionen gehören selbstverständlich zum Training professioneller Kraftsportler und abgefälschte Wiederholungen werden für den Muskelaufbau im Bodybuilding verwendet. 

Die teils eigenartige Sichtweise bezüglich der Range of Motion lässt sich gut an zwei bekannten Übungen aus dem Fitnessstudio verdeutlichen

Ass to the Grass oder Teilkontraktion?

Wann immer jemand schwere Kniebeugen praktiziert,, findet sich auch jemand, der peinlich genau darauf achten, wie tief die Kniebeuge ausgeführt wird. Gerade so, als gäbe es bei der Range of Motion einen magischen Punkt, oberhalb dessen die Übung überhaupt keinen Sinn macht. 

Tatsächlich aber sind Kniebeuge bis Oberschenkel parallel zum Boden, vielleicht mit einer Sekunde isometrischer Spannung an diesem Punkt, nicht unbedingt leichter als eine vollständige Wiederholung über die Full Range of Motion.

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Ab welchen Punkt ist die Kniebeuge effektiv?

Bei letzterem machen sich die Athleten den Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus der Muskeln zunutze und generieren daraus die explosive Power für den konzentrischen Teil der Bewegung. Wenn man aber gar nicht vorhat, möglichst viel Gewicht zu beugen, sondern einfach nur Muskeln aufbauen will, scheint die kürzere Version zunächst nicht weniger zielführend.

Bewegungslänge beim Bizepstraining

Ein anderes Beispiel sind Bizepscurls. Jeder kennt den Sticking Point, den es bei 90° Beugung im Ellenbogengelenk zu überwinden gilt. 

Gelingt dies nicht, hat man nur zwei Möglichkeiten: entweder durch Aufbau von genügend Momentum (und ein bisschen Schwung aus dem Körper) über diesen Punkt hinwegrollen oder den Satz abbrechen. 

Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit: Teilkontraktionen von 0° bis 90° ausführen und sich den oberen Teil der Bewegung sparen. Damit bleibt die Range of Motion verkürzt und die Wiederholung unvollständig, aber wen schert’s? – außer das eigene Ego vielleicht. 

Wer den Bizeps im Fokus hat, für den gibt es zwei Gründe, diesen unteren Teil der Bewegung auch dann noch auszuführen, wenn keine vollständige Wiederholung mehr möglich ist. Einer ist, dass der m. biceps brachii, im Gegensatz zum m. brachialis, in diesem Bereich besonders aktiv ist. 

Zu dem anderen Grund kommen wir gleich noch. 

Unterschiedliche Ergebnisse in den Studien

Die Studienlage bezüglich der Range of Motion und ihrer Effektivität hinsichtlich Kraft- und Muskelaufbau ist durchwachsen. Um es mal vorsichtig auszudrücken. 

Das liegt auch daran, dass die Full Range of Motion zwar relativ klar festzulegen ist, aber was ist das Gegenteil davon? Halbe Kontraktionen? Und wo finden die statt?

Nehmen wir wieder den Bizeps als Beispiel, so könnte eine Teilkontraktion von 0° bis 90°, von 90° bis 170°, aber auch von 40° bis 120° ablaufen. Tatsächlich verhält es sich in den Studien genau so und allein deswegen gibt es oft widersprüchliche Daten und Metastudien lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Studiendesigns kaum erstellen.

Für den ambitionierten Hobbysportler bedeutet das, wie so oft, dass Studien auf diesem Gebiet zwar ein guter Anhalt sind, aber selten der Wahrheit letzter Schluss.

Krafttraining mit Full Range of Motion

Spricht man von Full Range of Motion, wird damit oft ein gleichmäßiger Muskel- und Kraftaufbau über die volle Bewegungslänge impliziert. Das ist aber eine eher naive Vorstellung davon, wie der Muskel funktioniert.

Das Beispiel der Bizepscurls zeigt, dass die Last eben nicht gleichmäßig auf den Muskel einwirkt und der Muskel ist auch nicht in jeder Position gleich stark. In der Konsequenz wird der Bizeps an einem Punkt (90° Beugung) besonders stark trainiert und an einem anderen (etwa 170° Beugung) deutlich weniger. 

Zum einen, weil die Last aufgrund des kürzeren Lastarms an diesem Punkt deutlich geringer ist und zum anderen, weil dieser Punkt vielleicht seltener erreicht wird.

Curlstange
Bei 90° Oberarm / Unterarm – Winkel wird es oft schwierig.

Was spräche also dagegen, im oberen Teil der Bewegung Teilkontraktionen mit höherem Gewicht (aufgrund des kürzeren Lastarms) durchzuführen?

Wie gesagt, im Kraftsport trainiert man längst die persönlichen Schwachstellen mit auf den jeweiligen Bereich fokussierten Übungen, weil eben niemand über die komplette Range of Motion gleich stark ist. 

Mehr Bewegungslänge = längerer Muskel?

Nicht nur Kraftzuwachs, sondern auch Muskelwachstum lässt sich über die Bewegungslänge steuern. 

Das trifft zumindest für den distalen Teil des Muskels zu, also nahe dem Muskelansatz. In Studien ließ sich nachweisen, dass der Muskel tatsächlich länger wird, wenn man ihn über die gesamte Range of Motion trainiert. 

Da dies durch die Zunahme seriell geschalteter Sarkomere geschieht, ist Training über die volle Bewegungslänge nicht nur für diejenigen interessant, die im Bereich des Muskelansatzes mehr aufbauen wollen. 

Auch in Bezug auf Schnellkrafttraining lässt sich, mit aller gebotenen Vorsicht, die Aussage treffen, dass mehr Sarkomere natürlich auch mehr Actin-Myosin-Brücken bedeuten und hierdurch die Kontraktionsgeschwindigkeit zunehmen kann. 

Sieht man noch einmal genauer hin, ist aber vielleicht gar nicht die Range of Motion, sondern nur ein ganz spezifischer Teil des Bewegungsumfangs dafür verantwortlich, nämlich da, wo die größte Streckung des Muskels stattfindet.

Wann die Range of Motion für Muskelaufbau einen Unterschied macht

Bild wie unterarme trainieren

Halten wir zunächst fest: es gibt Hinweise darauf, dass Muskelaufbau durch entsprechendes Übungsdesign sehr spezifisch gesteuert werden kann. 

Für meine eingangs erwähnten Squats bedeutet das: Full Range of Motion, Ass to the Grass, generiert einen längeren Muskel und damit insgesamt mehr Muskelwachstum. Allerdings lässt sich mit Teilkontraktionen der proximale Teil (näher zur Körpermitte gelegen) bevorzugt ausbilden.

Zum besseren Verständnis schauen wir uns noch mal den Bizeps an. 

Streckt man beide Arme auf Schulterhöhe vom Körper weg, dann lässt sich die Form des Bizeps sehr schön erkennen. Manch einer wird dabei feststellen, dass ein Teil des Muskels weniger gut ausgebildet ist. 

Entweder nahe der Schulter (Ursprung, proximal) oder nahe des Ellenbogengelenks (Ansatz, distal).

Ist der Muskel nahe des Ellenbogengelenks schlecht ausgebildet oder insgesamt zu mickrig, lohnen sich Kontraktionen, die vor allem eine maximale Streckung des Muskels beinhalten, aber nicht notwendigerweise über die Full Range of Motion, bis in die maximale Kontraktion, gehen.

Ist der proximale Teil eines Muskels zu flach, lohnen sich Teilkontraktionen nahe der maximalen Kontraktion. Für den Bizeps würde das bedeuten, in einer Übung nur den oberen Teil der Bewegung auszuführen, zumal sich hierfür mutmaßlich mehr Gewicht bewegen lässt. 

Fazit: Wie die Range of Motion im Training einsetzen?

Sowohl Kraft- als auch Massesportler sollten Teilkontraktionen in den Bereichen einsetzten, in denen sie zu schwach sind, beziehungsweise der Muskel zu schwach ausgebildet ist. Das gilt natürlich auch und vor allem dann, wenn mehrere Muskeln in unterschiedlichen Anteilen an der Bewegung beteiligt sind. 

Einige Muskeln, darunter Bizeps und Beinstrecker, scheinen besonders von einer vollständigen Muskelstreckung zu profitieren. Positive Trainingseffekte der Full Range of Motion sind größtenteils auf diesen Teil der Bewegung zurückzuführen. 

Einsteiger profitieren, nicht nur zugunsten der Beweglichkeit, von einer Full Range of Motion am meisten. Nach gutem Aufwärmen sollte diese, wann immer möglich, auch die vollständige Muskelstreckung umfassen. 

Fortgeschrittenes Trainingsdesign könnte verschiedene Teilkontraktionen, z. B 0 – 90° und 90 – 180°, an verschiedenen Tagen beinhalten, um den jeweiligen Muskelbereich zu fokussieren. 

Mit einer solchen Trainingsplanung ließe sich auch die Frequenz, mit der ein Muskel trainiert werden kann, erhöhen, da jeweils unterschiedliche Bereiche des Muskels aktiviert werden. 

Danny T. Schneider